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Bauchgefühl

Wie gesund ist gesund?

Hand aufs Herz, wie oft tun Sie es? Einmal in der Woche? Dreimal? Jeden Tag? Der Blick auf den Nährstoff- und Kalorienindex im Supermarkt ist längst zum festen Bestandteil im Alltag geworden. Henriette Nebling hört auf ihren Bauch.
Als ich ein kleines Mädchen war, gab mir meine Großmutter in ihrer unendlichen Weisheit genau fünf Dinge zum Thema gesunde Ernährung mit auf den Weg: Wer viel Milch trinkt, der hat gesunde Zähne und Knochen, Spinat enthält Eisen, Karotten sind gut für die Augen, von Studentenfutter wird man schlau und wenn man Schnupfen hat, sollte man eine Zitrone auspressen. Unabhängig davon, ob diese kühnen Behauptungen sich heute, rund 20 Jahre später, bewahrheitet haben oder nicht: Damals waren es anerkannte Tatsachen, und wer sich an sie hielt, dem wurde ein langes und gesundes Leben prophezeit. Manchmal trauere ich diesen Zeiten hinterher! Warum? Einer der Gründe dafür ist meine Freundin Kathi.
Seit die Pharma- und Lebensmittelindustrie Kathi regelmäßig mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert, versucht Sie alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Halbwertzeit ihres Körpers möglichst weit auszudehnen. Das war dann auch der Grund, aus dem Sie vor anderthalb Jahren unter größten physischen und psychischen Qualen – für Kathi gleichwohl wie für ihr Umfeld – das Rauchen aufgab. „Gut für Sie“, dachte ich mir. Nicht nur wegen ihrer Gesundheit, sondern auch, weil sie nun endlich wieder genug Geld übrig hatte, um noch am Monatsende mit mir einkaufen zu gehen.
Plausibel schien es anfangs auch, als sie erklärte, sie wolle jetzt mehr Obst und Gemüse essen, am besten fünfmal täglich. Von da an klingelte ihr Wecker jeden Morgen eine halbe Stunde früher, sie schnitt Äpfel und Paprika vor, schälte Gurken, pürierte und presste alles aus, von A wie Ananas bis Z wie Zitronen, füllte es in Plastikschächtelchen und Trinkfläschchen und führte es fortan mit sich. Hinzu kam noch eine 1,5 Liter-Flasche Wasser, damit sie ihr Tagesziel von 2,5 Litern erreichte, wobei Sie nie so genau wusste, ob sie die Diät-Cola, die sie trank, nun einrechnen sollte oder nicht. Ich verriet ihr nie, dass ich insgeheim glaubte, die 30 Minuten Schlafentzug und das zusätzliche Gewicht in ihrer Handtasche wirkten sich weit schädlicher auf ihren Körper aus als all die Vitamine je rausreißen konnten. Ich dachte mir, sie würde es bestimmt schon noch selbst herausfinden. Die Frage war nur, wann?
Dass Kathi bald keine Schokolade mehr aß, muss ich wohl kaum noch erwähnen. Es sei denn natürlich, es handelte sich um solche mit über 70 Prozent Kakaogehalt. Als schlanke Frau im Alter von 26 Jahren war die Angst vor Altersdiabetes ja auch eine berechtigte Sorge! Und dann kam er, der Tag, an dem unsere Freundschaft auf eine harte Probe gestellt wurde und wir nur noch Cafés aufsuchen konnten, die Sojamilch ausschenkten, denn wie wir ja mittlerweile wussten, war Kuhmilch Gift für den menschlichen Körper! Arme Oma, wenn Sie das damals geahnt hätte!
Aber wie konnte ich es meiner Freundin übel nehmen, dass sie sich um einen möglichst gesunden – wenn auch oftmals strapaziösen – Lebensstil bemühte? Schließlich war sie damit nun wirklich nicht alleine. In Zeiten, wo sich Wissenschaftler seit Jahren darüber die Köpfe zerbrechen, ob Kaffee den Körper nun austrocknet oder nicht – und währenddessen mit Sicherheit selbst fünf Tassen am Tag trinken. Wo ein großer Fischstäbchenproduzent damit wirbt, dass sein neuestes Produkt reich an ach so gesunden Omega-3-Fettsäuren sein soll – die allerdings in jedem Fischstäbchen enthalten sind, auch in denen vom Discounter. Wo Menschen literweise natives Olivenöl nach Hause schleppen, auf dass es sie vorm Herzinfarkt bewahre – und es in die Tonne treten sobald sie hören, dass es beim Kochen krebserregende Stoffe freisetzt. In einer Welt, wo Tante Hilde gleichermaßen wie Lieschen-Müller von der Supermarktkasse zu selbsternannten Trophologen werden!
Immer häufiger musste ich an eine Geschichte denken, die mir eine Medizinstudentin erzählt hatte. Amerikanische Wissenschaftler hatten einer Gruppe von Kleinkindern über mehrere Wochen sämtliche Milchprodukte entzogen, woraufhin die Kinder intuitiv begannen, wie verrückt Sesambrötchen zu essen – denn Sesam enthielt viel Calcium. „Eigentlich müssten wir nur auf unseren Körper hören“, erklärte mir die angehende Ärztin souverän. Zwei Stunden später hing sie bäuchlings über dem Damenklo und gab 0,7 Liter Wodka an die Natur zurück. Und ich begann mich zu fragen, ob wir tatsächlich die Sprache unseres Körpers verlernt hatten? Und wenn ja, waren Magazine und das Privatfernsehen tatsächlich der richtige Dolmetscher?
Was aus Kathi geworden ist, fragen Sie? Mittlerweile geht sie auch wieder in normale Cafés, obgleich sie dort nur fernöstliche fermentierte Kräutergetränke konsumiert – wegen der Antioxidantien. Und sie hat wieder das Rauchen angefangen, wenn auch nur fünf am Tag. Das sei sogar gesund meint sie, denn es bewahre sie vor den zwei größten Zivilisationskrankheiten unserer Zeit: Stress und Überfettung. Mir ist das mittlerweile alles gleichgültig. Heute frage ich mich nur noch, was Kathi wohl tun würde, wenn sie eines Tages vom Blitz getroffen würde? Würde sie sich ärgern, dass sie heute Morgen nicht mehr Magnesium genommen hat?
 
18. Juli 2011, 06.00 Uhr
Henriette Nebling
 
 
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