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All u can eat

Menschliche Mastgänse

Für gewöhnlich beschränkt sich der Begriff „Mast“ auf den Bereich der Landwirtschaft. Dennoch kann es zuweilen geschehen, dass einem auch am Esstisch kein treffenderes Wort mehr einfällt … insbesondere dann, wenn ein All-you-can-eat-Restaurant in der Nähe ist!
Es war in keiner Weise meine Schuld! Weder hatte ich etwas dazu beigetragen, dieses entsetzliche Ereignis zu befördern, noch hatte ich es auf mich zukommen sehen: Da saß ich nun, im Mongolischen Barbecue-Tempel! Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mit Sicherheit gibt es hervorragende mongolische Restaurants, die einen Besuch jederzeit wert wären … bloß dieses zählte nicht dazu.
Für den scheinbar günstigen Preis von 18 Euro durfte ich essen, soviel ich wollte. Ein tückisches Versprechen, spekulierte das Restaurant doch offensichtlich darauf, dass seine Gäste bereits nach der ersten Kostprobe der „mongolischen Leckerbissen“ dankend von dem Angebot zurücktraten: angetrocknete China-Nudeln, zähe Ente süß-sauer, Miso-Suppe, die ihren Namen vor allem dadurch verdiente, dass sie so unglaublich mies nach Zitronensaftkonzentrat schmeckte, schlecht gerolltes und noch schlechter gekühltes Sushi sowie Eis, das man mit versifften Kellen aus den Plastikbehältern kratzen musste, verdarben der Kundschaft schon beim ersten Gang den Appetit. Wie jeden, der Wert auf einen intakten Magen-Darm-Trakt legt, packte mich ein starker Fluchtreflex, doch meine Freunde, die mich zu diesem kulinarischen Ground Zero gelockt hatten, saßen bereits mit gewetzten Messern über ihre Teller gebeugt. Es war zu spät, ich musste den Speisen, die aussahen, als hätten Sie bereits Methusalem überlebt, eine Chance geben, die sie zweifelsohne nicht verdienten. Doch meinen Begleitern schien deren miese Qualität nicht aufzufallen. Sie waren fest entschlossen, jeden Cent, den Sie in das All-you-can-eat-Angebot investiert hatten, auch wieder herauszuschlagen … und es obendrein noch zu genießen!
Noch während ich mit rotierendem Magen meinen Jasmintee süffelte, kam ich ins Grübeln. Der Geschmackssinn war uns doch allen gleichermaßen in die Wiege gelegt. Wie konnte es da sein, dass meine zwei Tischgenossen nicht bemerkten, dass sie Dinge in sich hinein schlangen, für die Dschinghis Kahn seinen Koch erbarmungslos enthauptet hätte? Litten sie an einer spontanen Dysgeusie, einer temporären Störung der Geschmacksrezeptoren, oder hatten sich diese gar dauerhaft von ihnen verabschiedet? Und mit einem Mal wusste ich es! Neben Geschmacks-, Geruchs-, Tast- und Temperatursinn gibt es noch einen fünften Sinneseindruck, der die geschmackliche Erfahrung beeinflusst. Es muss eine Relation zwischen gustatorischer Wahrnehmung und pekuniärer Befindlichkeit geben, deren genaue Parameter es in Studien noch zu belegen gilt! Menschen unterschiedlichsten Bildungsniveaus waren bereit, sich ein Geschmackserlebnis schönzureden, sofern ihnen als Gegenleistung für möglichst wenig Geld ein möglichst voller Bauch geboten wurde. Eine Laune der menschlichen Natur, aus der heraus nicht nur Schulcafeterien ihre Existenzberechtigung nährten, sondern auch Kantinen, Mensen und Autobahnraststätten. In den Bereich moralischer Fragwürdigkeit driftet das Phänomen jedoch, wenn ein Lokal seine Gäste mittels einer Speise-Flatrate dazu verleitet, sich selbst wie die Martinsgänse zu mästen, bis die investierte Summe auf Heller und Pfennig wieder drin und aus einem hungrigen ein verdorbener Magen geworden ist: Römische Dekadenz im Angesicht der Hungersnöte dieser Welt, blanker Hohn aber auch, wenn es um die Wertschätzung des eigenen Körpers geht. Denn wer ein engeres Verhältnis zu seinem Portemonnaie als zu seinem Magen hegt, bei dem ist anatomisch so einiges im Argen!
 
8. August 2011, 12.02 Uhr
Henriette Nebling
 
 
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